Die Zerschellten Gedanken

Vor nicht langer Zeit gab es einmal einen Realsozialismus, der an der Schwelle eines Realkapitalismus begann und sich bis zum Beringmeer erstreckte. Dies war eine derart reale Wirklichkeit, obwohl beide Begriffe einer irrealen Wirklichkeit zuzuordnen sind. Na ja, das reale Leben ist halt verworren. Wie dem auch sei. Der Realkapitalismus war sehr westlich, demzufolge sollte der Realsozialismus sehr östlich sein. So war es auch, es sei denn, man möchte gerne wissen, wo man gerade steht. Ich persönlich weilte zu seinerzeit im Osten, von Österreich aus gesehen wohlgemerkt. Ich musste feststellen, dass der Realsozialismus irgendwo ein Staatskapitalismus war, in dem das Individuum für den Staat existieren musste, im Realkapitalismus sei es angeblich umgekehrt gewesen. Die Existenzialisten mögen mir verzeihen, falls ich sehr jenes westliche Existenzielle dadurch verwässere. Wie bitte? „Die Wahrheit ist zum Sterben langweilig.“ Ja, ja, ja, du hast ja so Recht, mein lieber Camus. Im Übrigen möchte ich persönlich einwenden, dass die Sonne nicht unbedingt im Osten aufgeht und im Westen untergeht. Die Sonne geht überhaupt nirgendwo auf und unter. Sie geht ihren Weg einfach auf und ab.
Dort, wo der Staatskapitalismus herrschte, gab es nicht einmal gescheite Strümpfe oder Kaugummis. Ja, diese, welche Frauen im Westen im Überschuss anhatten, aber ihre Geschlechtsgenossinnen sich im Osten dafür angeblich käuflich machten. Und diese Kaugummis, durch welche man immer wiederkäute. Ich weiß nicht, vielleicht wegen des kalten Krieges, der damals die ganze Erde heimsuchte. Heute gibt es ihn zum Glück nicht mehr. Er ist erfroren. Jetzt ist die Zeit lauwarm geworden. Manche sagen, Klima-erwärmung oder -verschiebung oder so. Die anderen wiederum behaupten, es sei eine Art Treibhauseffekt. Wie bitte? Ich höre nicht! Methangas, sagen Sie? Nähern Sie sich bitte zum Mikrophon! „Jawohl! Ich meine, wegen Überbevölkerung erzeugtes Methangas und dadurch entstandenes Ozonloch!“ Also notiere ich. Ein Problem der Löcher. Es stimmt doch, oder? Danke für den interessanten Beitrag. Würden Sie bitte das Mikrophon der Dame mit langen blonden Haaren weiterreichen. „Ich glaube, ein anderer Grund dafür ist, weil immer mehr Bienen fortgehen.“ Sie meinen, wir werden nicht mehr so richtig bestäubt? Ich kann Ihnen nur Recht geben. Wissen Sie, es hängt womöglich damit zusammen, dass die Bienen in einen „Nicht Ort“, also nach Utopia gegangen sind. Die Realsozialisten träumten ja bekanntlich vom Kommunismus, der nichts anderes bedeutet als eine schöne Utopie. Im heutigen Neoliberalismus, der in Wahrheit nichts anderes als ein Bastard des Realkapitalismus ist, haben wir keine Träume und infolgedessen keine Utopien mehr. Somit auch keine Romantik mehr, die während der Aufklärung im Westen einen magischen Horizont darstellte, über den unser Dasein weit bis in die Eingeweide des Universums hinausragte. Anders gesagt, dies war eine zauberhafte Reise in ein Schwarzes Loch außer unserem durch unsere Löcher verursachten Ozonloch. Das Schwarze Loch besitzt einen Eingang, aber keinen Ausgang, unser Ozonloch hingegen besitzt beides. Eine Reise in ein Schwarzes Loch wäre also ohne Wiederkehr ins Nirgendwo, dorthin, wo die Gravitation so groß ist, dass sogar Atome zerquetscht und zu Neutronen werden. Wie Sie sehen, wenn von Romantik die Rede ist, verliere ich mich in lauter Löchern, oder werde ich zu Neutronensternen und bestehe nur aus der wohl vielleicht dichtesten Materie der Utopien. Wie einmal Einstein so schön zu sagen pflegte: „Vorstellungsvermögen ist viel wichtiger als das Wissen.“
Irgendwann mal vergeht das Irreale des Realen auch. So passierte es auch mit dem realen Wahn des Realsozialismus, bzw. des Staatskapitalismus, der keine freie Marktwirtschaft, Transaktionen, keine Wertpapiere, keinen Libor, keine Börse, keinen was weiß ich, welchen Index, sogar nicht einmal Staatsanleihen et cetera kannte. Und sein Scheinsein zerfiel auf einmal vom Sein zum Nichts. Bum! Vom Atom zum Neutron. Ein kleiner Urknall, der die Menschheit ins Zeitalter der Globalisierung hinauskatapultierte. Super! Wir, die Töchter und Söhne einer glücklichen Konsumgesellschaft des Realkapitalismus, in dem wir in Fülle und Hülle über Kaugummis und Strümpfe verfügten, waren von dieser so unerwartet rasanten Entwicklung so benommen, dass wir in Windeseile glaubten, dies sei eine Revolution, es beginne ein neues Zeitalter. Da reagierte als erstes der Vatikan. Die größte moralische Instanz der katholischen Welt. Er verkündete ganz cool in seiner Enzyklika folgende Botschaft: “Die Freude über den Zerfall des Realsozialismus ist verfrüht, wir müssen auch den Kapitalismus überwinden.“ Also bitte. So wurden wir wieder zu den irrealen Realen zurückgeholt.
Kapitalismus ist mittlerweile eine Monokultur. Er erhebt den Anspruch, ein allmächtiges Sein und Seiendes zugleich zu sein. Die Welt ist seine alleinige Plantage, in der er alle menschliche Ungeziefer vernichten möchte, die seinem Gedeihen im Weg stehen. Dafür bedient er sich auch der Kriege. Nur keinen Weltkrieg, sondern lokaler Kriege. Noch. Er ist überall, und ist das Über-All. Dafür braucht er den Gott als Mitkomplize. Wir, seine Untertanen haben kein Sein mehr in ihm, wir werden auf Lebewesen degradiert, die bloß immer mehr haben wollen. Und trotzdem „Je mehr wir haben, desto mehr haben wir zu wenig“, wie einst Rolf Böhme so schön sagte. Neben materiellen Gütern wollen wir abstrakte Güter wie Sex, Liebe erkaufen können. Würde dies zur Erfüllung des menschlichen Daseins führen?
Eine himmlische SMS von Papst Benedikt XVI. lautete neuerdings, „Ewigkeit ist nicht eine immer weitergehende Abfolge von Kalendertagen, sondern etwas wie der erfüllte Augenblick.“ Als ich dies heute in einer Tageszeitung las, schmunzelte ich beinahe andächtig. Das Gefühl einer plötzlichen Erleuchtung erfasste mich. Als Poet war ich zeitlebens auf der Suche nach Augenblicken, denen eine Ewigkeit entspringen sollte. Der Vatikan wusste also das Rezept, dachte ich der Sterbliche. Oder vielleicht waren es die Tempelritter und Illuminaten, die das Geheimwissen über die Ewigkeit der erfüllten Augenblicke besaßen? Oder doch die Freimaurer?
Die Götter des Kapitalismus sind nach wie vor das Geld und die Religion. Ein amerikanischer Außenminister, Henry Kissinger, sagte, „Wenn man über die Macht des Finanzkapitals verfügt, regiert man die ganze Welt.“
Religion ist heutzutage der Humus, aus dem sich der Kapitalismus noch reproduziert, bis er dafür einen anderen Ersatz findet. Nur Fußball ist zu wenig, um Massen ejakulieren zu lassen, Kapitalismus braucht auch für die Seelen einen Ball. Ihm macht es noch nichts aus, wenn die Talibans den Frauen im Irak den Kauf von Gurken verbieten, oder die Moslembrüder im Ägyptischen Parlament einen Gesetzesentwurf einreichen, in dem es hieß, dass der Mann mit seiner Ehefrau innerhalb von sechs Stunden nach ihrem Tod einen Abschiedssex treiben dürfe. Dieser Antrag wurde abgelehnt. „Es würde Knochen regnen, wenn das Gebet der Hunde von Himmel erhört würde“, sagt ein türkisches Sprichwort. Na ja, scheinbar wussten die Hunde schon lange, dass das Gottesteilchen, „Higgs-Boson“ nicht etwas zum Essen ist.
Ohne Religion entstünde ein Chaos, so die Befürchtung im kapitalistischen Ordnungswahn. Die Philosophie sieht aber das Chaos doch als Urschlamm, aus dem die Pflanze als Organismus gedeiht. Das Chaos kämpft gegen das Leben, um neues Leben zu ermöglichen. Wo das Chaos verdrängt ist, verliert die Ordnung ihre Kraft. Die Ordnung verzehrt das Chaos und verhungert, wenn sie keines mehr findet. Ich persönlich glaube fest daran, dass dieses Jahrhundert die Epoche der Abrechnung mit den monotheistischen Religionen sein wird, damit die Menschheit doch die Wahrheit im randlosen Universellen sucht, nicht in den selbsterschaffenen Gottheiten. „Kapitalismus liegt außerhalb der Moral“, sagte der Finanzguru George Soros in einem Interview. Hatte er wohl dabei einem erfüllten Augenblick?
Wir sind derweilen Kinder einer Amok laufenden Welt. Wir sind Töchter und Söhne einer postmodernen, neoliberalen Weltdiktatur. Verdammt sind wir heute zu einem Weniger Übel, das morgen mehr, und übermorgen womöglich wieder weniger sein wird. Alle unsere Wege sind gezäumt von Vogelgrippe, Ebola, Waldbränden, Spekulanten, Aasgeiern, Managergeistern… Dorthin, wo unsere Leiber aufhören, werden Walleichen, gerodete Baumstämme, nichterträumte Träume, nichterhörte Gebete, nichtgelebtes Vergangene gespült. Wir schauen, aber sehen nicht mehr. Wir haben unsere Gewissen schon längst in Brand gesteckt. Der Sommer in uns friert, der Winter brennt. Unsere Einsamkeit ist uns noch zu wenig, wir sind schon längst in eine digitale Einsamkeit aufgebrochen. Liebe ist für uns wie ein kaltgepresster Saft, nicht einmal biologisch, weil Liebe nie und nimmer logisch ist. Einer logischen Liebe entspringt nun mal kein Gefühl, aus dem wiederum kein erfüllter Sex sprießt.
Du hast Recht, lieber Wolf Biermann, Ja, „Es gibt ein Leben vor dem Tod.“ Darum lieben wir es ja so sehr. „Den Liebesbrand kann man nur mit Liebe löschen“, sagst du lieber Rumi. Was für einen Feuerball legst du mir damit in den Schoß! Ich sag dir etwas, ohne Sonne gibt es keinen Schatten. Du, M. Cevdet Anday, es stimmt, „Die Kunst ist die Überwindung der Vernunft.“ Wie könnten wir bloß ohne Kunst zur Erfüllung gelangen? Darum wollen wir uns niemals mit einer Welt begnügen, deren Grenzen vorbestimmt sind. Darum haben wir immer ein Chaos in uns, um tanzende Sterne gebären zu können, nicht wahr lieber Nietzsche? Leihet mir bitte ein paar Augenblicke von Euch, aus denen ich eine Ewigkeit weben kann.

Ich? Ich bin heute das Kind des globalen Amoklaufs, der bereits Mensch für Mensch, Sein für Sein um sich greift. Dieses bespuckte Gesicht ist meins. Mein ist dieser Dreitagesbart, der diesem Lebensrutsch nicht mehr standhält. Dieser Verkrüppelte ist niemand anderer als ich, der sich nicht mehr der Güte einzuhängen vermag. Ich bin dieses Monster in Menschengestalt. Erwartet keine frommen Taten mehr von mir. Mit Verfall lege ich den Sumpf des Schönen trocken. Mit Bosheit stopfe ich meine Seelenrisse. Ich lasse die Finsternis in meiner Brust nie mehr untergehen. Ich bin dieser elende Niederträchtige in den Niederungen der Vernunft, niemand anderer als ein Zeitgenosse von Euch!